Bei der Neuroökonomie trifft Wissenschaft auf Wirtschaft. Mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden wird daran gearbeitet, das Entscheidungsverhalten von Menschen nachzuvollziehen. Der Neuroökonom Prof. Dr. Bernd Weber über die Kinderschuhe des Neuromarketings, den richtigen Einsatz von Emotionen und den Wert von Besitztümern.

Welchen Einfluss haben physiologische und psychologische Faktoren auf das ökonomische Verhalten?

Prof. Dr. Bernd Weber: Die neuroökonomische Forschung hat z. B. gezeigt, dass vegetative Zustände wie Hunger, Müdigkeit oder Hormonproduktion unsere Entscheidungen beeinflussen. Die Bedeutung solcher Bio-Marker wird in klassisch-ökonomischen Modellen nicht berücksichtigt. Dort geht man von Akteuren aus, die vor allem unter dem Gesichtspunkt der Güterabwägung handeln. Aber es ist erstaunlich, wie unser tatsächliches Verhalten von scheinbar völlig irrelevanten Faktoren mitbestimmt wird. Erklärbar wird das durch die Einbeziehung biologischer, sozialer und psychologischer Komponenten. So sind beispielsweise unsere Entscheidungen abhängig von dem Kontext, in dem wir sie treffen.

Durch den Kontext lassen sich also Entscheidungen steuern?

Prof. Dr. Bernd Weber: Ja, etwa durch die Festlegung von Standards. Die meisten akzeptieren eine solche vorgegebene Norm, und nur eine Minderheit weicht ab. Sehr gut lässt sich das bei Konfiguratoren im Internet beobachten, wo die meisten Nutzer bei der Voreinstellung bleiben, obwohl ihnen auch andere Optionen zur Verfügung stehen. Ein anderes bemerkenswertes Beispiel ist die Bereitschaft zur Organspende. In Ländern, in denen man erst sein schriftliches Einverständnis erklären muss, liegt sie etwa bei 10 %. In den Staaten hingegen, in denen sie gesetzlich vorgesehen ist, sofern man nicht schriftlich seine Weigerung mitteilt, sind ca. 90 % mit einer Organspende einverstanden.

Ist das nur Trägheit, oder gibt es dafür auch andere Gründe?

Prof. Dr. Bernd Weber: Sicher spielen dabei auch Trägheit und Desinteresse eine Rolle. Aber bei den Internetnutzern zeigt sich unser generelles Zögern, den Status quo aufzugeben, also zugunsten von etwas Neuem auf etwas, das uns sicher ist, verzichten zu müssen. Wir haben eine evolutionär entwickelte Abneigung gegen Verluste. Und bei den Organspendern kommt natürlich auch der Widerwille hinzu, sich mit einem so bedrückenden Thema wie dem eigenen Tod auseinandersetzen zu müssen. Aber dieses Beispiel zeigt, dass sich bei gleichen Motiven der Betroffenen durch unterschiedlich definierte Standards völlig andere Entscheidungen herbeiführen lassen.

Wie wichtig ist das Bedürfnis, mit anderen übereinzustimmen?

Prof. Dr. Bernd Weber: Der Wunsch nach sozialer Konformität beeinflusst das Verhalten von Konsumenten sehr. Das zeigen Experimente. Probanden hören Musikstücke, die sie beurteilen. Dann teilt man ihnen das Abstimmungsergebnis in ihrer Gruppe mit und fragt sie zum zweiten Mal nach ihrer Einschätzung: Die meisten unterliegen dem sozialen Druck und passen sich der herrschenden Meinung an. Untersucht man in einem solchen Fall die Vorgänge im Gehirn, stellt man fest, dass die Erfahrung sozialer Konformität das Belohnungszentrum aktiviert.

Mittlerweile behaupten viele, Erkenntnisse aus der Hirnforschung in die Praxis umzusetzen. Wie groß ist die wissenschaftliche Basis des Neuromarketings?

Prof. Dr. Bernd Weber: Wir stehen erst ganz am Anfang einer Entwicklung. Es gibt wichtige Hinweise, dass wir durch die Beobachtung von Gehirnaktivitäten – z. B. mittels eines Kernspintomographen – über das Verhalten von Konsumenten mehr erfahren können als durch die bloße Befragung von Probanden. Aber wir sind noch längst nicht soweit, solche neurophysiologischen Beobachtungen in zuverlässige Vorhersagen über den Markterfolg von Produkten umsetzen zu können. Die Überprüfung von Schlussfolgerungen ist außerordentlich aufwendig, weil wir dafür eine Unmenge an Daten brauchen. Wissenschaftlich fundiert ist bisher nur wenig. Viele Aussagen zur Wirksamkeit des Neuromarketings sind völlig überzogen. Zwar gibt es Theorien, die plausible Erklärungsmodelle bieten wie etwa die Auswertung von Blickbewegungen, aber bewiesen ist vieles nicht. Aus wissenschaftlicher Sicht lässt sich da nur sagen: Sie können zutreffen oder auch nicht. Es wird viel behauptet, was nicht belegt ist.

Lange galt es als wichtigste Aufgabe der Werbung, Aufsehen zu erregen, aber inzwischen zeigen Studien, dass das Spektakuläre auch den fatalen Effekt haben kann, dass das beworbene Produkt gar nicht wahrgenommen wird. Wie sichert man der Werbebotschaft eine ausreichende Beachtung?

Prof. Dr. Bernd Weber: Zwar sind Emotionalisierung und Spannung wichtige Elemente der Werbung, aber wenn sie übertrieben oder zum falschen Zeitpunkt eingesetzt werden, wirken sie kontraproduktiv. In einem Zustand großer emotionaler Erregung können wir Informationen nicht mehr gut abspeichern. Wenn man also in einem Werbespot eine Geschichte erzählen will, kommt es darauf an, das beworbene Produkt rechtzeitig – und in seiner Markenidentität erkennbar – in die Handlung zu integrieren, damit es Teil des Spannungsbogens wird. In einem amerikanischen TV-Spot wird ein Mann gezeigt, der sich mit einer Motorsäge an die Gartenarbeit macht – und dabei auch einen Telefonmast fällt, der auf einen Porsche stürzt. Und erst jetzt, auf dem Höhepunkt der Dramatik, wird der Markenname genannt. Damit ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass er in Erinnerung bleiben wird. Gelungen ist dagegen ein anderer Werbespot: Ein Jogger, der seinen Porsche an einer Klippe geparkt hat, lehnt sich gegen den Kofferraum, um Dehnungsübungen zu machen. Ein Trucker, einen Schokoriegel in gut sichtbarer Verpackung essend, fährt vorbei und missversteht die Situation. Er hält an und „hilft“, das Auto anzuschieben, und der Porsche verschwindet in der Tiefe. Hier gehört der Schokoriegel zur Charakteristik des Truckers, zur Lässigkeit eines Mannes, der nicht viel redet, wenn er handeln kann.
Emotionen können die Gedächtnisfunktion stärken oder blockieren. Wichtig ist, wann und wie sie eingesetzt werden.

Trägt die Gegenständlichkeit, die haptische Wahrnehmbarkeit von Werbeartikeln dazu bei, die Erinnerung an die Werbebotschaft zu intensivieren?

Prof. Dr. Bernd Weber: Ja, denn unserem Gedächtnis prägt sich eine Wahrnehmung tiefer ein, wenn sie nicht nur über eine Sinnesmodalität vermittelt wird. Unser Erlebnis wird plastischer, wenn wir nicht nur sehen und hören, sondern auch fühlen. Solche Informationen nehmen wir stärker auf.
Ein anderer wichtiger Aspekt des Werbeartikels ist sein Produktnutzen. Wenn wir einen solchen Gegenstand in unserem Alltag häufig gebrauchen, hat unser Gedächtnis die Gelegenheit, die Werbebotschaft in immer neuen Assoziationen abzuspeichern. Die Kontakthäufigkeit ist ein wesentliches Kriterium für die nachhaltige Wirkung von Werbung.

Eine andere Besonderheit des Werbeartikels ist es ja, dass er in den Besitz seines Empfängers übergeht – er wird zu etwas, das ihm gehört und das er als das Eigene von Fremden abgrenzt. Welche Rolle spielt diese Identifikation?

Prof. Dr. Bernd Weber: Eine sehr große. Aus verhaltensökonomischen Studien wissen wir, dass man das, was man besitzt, höher taxiert, als es seinem tatsächlichen Wert entspricht. Zu denen, die diesen sogenannten Besitztumseffekt untersucht haben, gehört Daniel Kahnemann, der den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt. Berühmt wurde sein Experiment, das er mit zwei Gruppen von Studenten durchführte. Jedem Mitglied der einen Gruppe schenkte er eine Tasse, die an Angehörige der anderen Gruppe verkauft werden sollte. Der Mindestpreis der Tassenbesitzer lag deutlich über dem, den die Käufer zu zahlen bereit waren. Dieses überraschende Ergebnis wurde durch zahlreiche andere Untersuchungen bestätigt. Sobald etwas uns gehört, gewinnt es für uns an Wert – und wir sind dann auch nicht mehr so schnell bereit, es wieder herzugeben. Es sind tief verwurzelte Verlustaversionen, die uns an dem, was wir besitzen, festhalten lassen.

Welchen Vorzug haben aus Ihrer Sicht Beigaben gegenüber dem Rabattsystem?

Prof. Dr. Bernd Weber: Das plastisch Konkrete und Gegenwärtige wirkt stärker als etwas, das wir uns erst vorstellen müssen und das uns zudem erst in der Zukunft verfügbar ist.

Haben Sie an Ihrem Institut das Potenzial gegenständlicher Werbung schon einmal wissenschaftlich näher untersucht?

Prof. Dr. Bernd Weber: Bisher haben wir uns nur mit der Frage beschäftigt, wie Mailingverstärker wirken. Der Inhalt von Briefen wird besser erinnert, wenn ihnen ein kleines Präsent beiliegt  – aber nur dann, wenn der Empfänger davon überrascht wird. Es ist der unerwartete Vorteil eines solchen Geschenks, das im Gehirn belohnungsrelevante Strukturen aktiviert. Denn im Laufe unserer Evolutionsgeschichte war Lernen, also die besondere Beachtung neuer nützlicher Informationen, für uns überlebenswichtig.

// Mit Prof. Dr. Bernd Weber sprach Irene Unglaube.

www.lifeandbrain.com
www.neuroeconomics-bonn.org

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