Die Corona-Krise hat massive Auswirkungen auf unseren Alltag, und sie wird unsere Zukunft beeinflussen. Der Zukunftsforscher Daniel Dettling hat in seinem neuen Buch Zukunftsintelligenz dargelegt, warum wir diese Krise als Chance zu einem resilienteren Umgang mit künftigen Herausforderungen begreifen können. Ein Gespräch über neue Kulturtechniken, die Ergänzung der sozialen Marktwirtschaft durch eine Sinnkomponente und die Allianz von Mensch und Maschine im Marketing.

Dettling Aufmacher - „Aus Marken werden emotionale Persönlichkeiten“

Erste Meldungen zu einer durch ein neuartiges Coronavirus ausgelösten, schweren Erkrankung gab es hierzulande Anfang des Jahres. Wann war der Moment, als Sie dachten, das ist jetzt wirklich neu, COVID-19 beeinflusst meine Arbeit als Zukunftsforscher erheblich?

Daniel Dettling: Spätestens als die Schulen und Kitas schlossen. Damit war klar, dass Corona Folgen für uns alle haben wird und im Gegensatz zu früheren Krisen kein Fernsehereignis bleibt. Eine Ahnung bekamen wir alle mit den Bildern aus Wuhan, wo das Virus zuerst ausbrach. In einer globalisierten Welt mit immer dichter werdenden Handelsbeziehungen kann jeder zwischenmenschliche Kontakt unkalkulierbare Folgen für uns alle haben. Der Philosoph Peter Sloterdijk hat dies sehr treffend bereits vor Corona beschrieben: Wir alle werden Teil einer „immunologischen Risikogemeinschaft“.

Inwiefern beschleunigt die Corona-Krise bereits in der Gesellschaft bestehende Trends – und sehen Sie auch Trends, die durch COVID-19 verlangsamt oder gar gestoppt wurden?

Daniel Dettling: Diese Krise beschleunigt und verlangsamt gleichzeitig. Was mit der Wahl Donald Trumps und dem Brexit vor Jahren begann, wird durch die Corona-Krise paradoxerweise beschleunigt: das Ende der hyperschnellen Globalisierung. Was an ihre Stelle tritt, ist derzeit noch nicht absehbar. Zwei Trends sind die Gewinner der Krise: Digitalisierung und Regionalisierung. Der digitale Wandel beschleunigt sich, auch weil immer mehr Menschen seine Vorteile unmittelbar erleben: Homeoffice, Online-Handel, digitale Medizin. Die Krise führt darüber hinaus zu einer Aufwertung von Räumen und Regionen. Das fängt bei Orten an, die weniger von der Pandemie betroffen sind, und geht bis Europa, das mehr zusammenrückt und wirtschaftlich enger kooperiert. Interessanterweise ist der gesellschaftliche Zusammenhalt in der Krise gestiegen, und die Menschen blicken auch deshalb durchaus optimistisch in die Zukunft. Die monatelangen Schulschließungen und die ökonomischen Folgen der Kurzarbeit werden mittelfristig aber die soziale Ungleichheit verstärken.

Es gehe nun nicht nur vor dem Hintergrund der Pandemie um die Verbindung von digitaler Technik und menschlicher Kultur zu einer neuen Kulturtechnik, schreiben Sie in Ihrem Buch. Wie haben wir uns diese neue Kulturtechnik denn vorzustellen?

Daniel Dettling: Radikale technologische Veränderungen führen zu einem Prozess der Ko-Evolution. Sie verdrängen zwar menschliche Arbeit, werten sie aber gleichzeitig auf. Die Digitalisierung stellt uns eine kulturelle Frage: Wo macht menschliche Arbeit Sinn, und was sind wir bereit, dafür zu bezahlen? Können wir uns vorstellen, im Alter von Robotern gepflegt zu werden, oder wird es nicht vielmehr zu einem Zusammenspiel von technologischen Assistenzsystemen und besser bezahlten menschlichen Fachkräften kommen? In einer Krise wie Corona merken wir, was wirklich systemrelevant ist: der Faktor Mensch mit Gefühlen, Emotionen, Empathie und Solidarität. Technik ist nicht solidarisch, sie kann uns aber dabei helfen, solidarischer zu sein. Die „Corona-Warn-App“ ist dafür ein gutes Beispiel: Ich teile meine Daten mit Unbekannten, damit ich selbst und meine Kontakte sicherer leben können.

Sie schreiben, unser mentales Immunsystem verfüge über eine unterentwickelte Zukunftsintelligenz. Was meinen Sie damit?

Daniel Dettling: Evolutionär ist der Mensch ein zukunftsoffenes, aber auch vorsichtiges Wesen. Seine Fähigkeit zur Adaption, zur Anpassung an seine Umwelt und seine Intelligenz haben ihn bis heute überleben lassen. Mental lassen wir uns aber oft zu stark von Ängsten leiten. Zukunftsangst ist allerdings kein guter Ratgeber in Zeiten wie heute, die Besinnung auf unsere Stärken, zu denen auf Lösungen gerichtete Intelligenz gezählt werden darf, schon. Ich bin überzeugt: Die Klima-Krise wird zerstörerischer sein als Corona. Wir brauchen mehr Zukunftsintelligenz, wenn wir kommende Krisen überleben wollen, denn das Ziel von Zukunftsintelligenz ist Resilienz.

Sie sagen sogar, dass Resilienz Effizienz schlage …

Daniel Dettling: Es geht um eine widerstandsfähigere Welt, die besser gegen Krisen wie Corona und den Klimawandel gewappnet ist und dabei nicht in Panik und Alarmismus verfällt. Statt allein um Effizienz, die Steigerung von Gewinn und Wachstum, geht es künftig um robuste Systeme, die weniger anfällig sind für externe Schocks wie der plötzliche Mangel an Medikamenten und Masken in Europa. Diversifizierung und Digitalisierung sind dabei wichtige Faktoren einer resilienten Wirtschaft. Wir müssen uns weniger angreifbar machen von außen, ohne dabei in Abschottung und Nationalismus zu verfallen. Ich bin überzeugt, dass auf die effiziente und hyperschnelle Globalisierung eine resiliente Glokalisierung folgen wird, d.h. ein neues Gleichgewicht zwischen globaler und regionaler Kooperation. Europa kommt dabei eine Schlüsselrolle zu.

Nehmen wir an, ein Unternehmen bittet Sie um Rat, wie es sich zukunftsintelligent aufstellen kann. Was antworten Sie? Welche Aspekte sind zu beachten?

Daniel Dettling: Unternehmen bestehen ja aus den Menschen, die dort arbeiten, die es führen und die in das Unternehmen investieren. Jedes Unternehmen verfügt also – wie jeder Mensch auch – schon über eine Grundausstattung an Zukunftsintelligenz. Nur sind die kollektive Intelligenz und die Fähigkeit zur Konnektivität und zur Ko-Evolution meist unterentwickelt oder werden gar nicht gesehen. Stattdessen dominiert der Glaube an Technik, die alles lösen soll. Ohne unsere Intelligenz wird die Digitalisierung alleine aber gar nichts lösen, sie wird uns auch nicht erlösen. Unternehmen müssen in Zukunft auch von innen heraus wachsen, in Mitarbeitern Mitunternehmer sehen und sie auch so behandeln. Wertschöpfung hat viel mit Werten zu tun. Wozu sind wir Unternehmen, welchen Mehrwert wollen wir jenseits von Profit und KPIs schaffen?

Das führt direkt zu Ihrer Idee einer „sinnvollen sozialen Marktwirtschaft“.

Daniel Dettling: Ja, ich skizziere die Idee einmal kurz: Die Leistung des Modells der sozialen Marktwirtschaft war der Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Jetzt und noch mehr in Zukunft geht es um die Weiterentwicklung des Modells zu einer sinnvollen sozialen Marktwirtschaft, es geht um mehr Teilhabe an Arbeit, Wohlstand und Sinn. Arbeit und Wirtschaft müssen einen Unterschied machen und einen Mehrwert generieren, nicht nur für einen selbst, sondern auch für andere, für folgende Generationen. „Hier und heute“ wird ersetzt durch „Heute, morgen und übermorgen“. Der Gedanke der Nachhaltigkeit z.B. ist längst Bestandteil der DNA vieler Unternehmen. Politisch gewinnt die Idee der ökosozialen Marktwirtschaft, die Verbindung von Arbeit, Kapital und Umwelt, an Zustimmung. Dieser Trend lässt sich auch an den Finanzmärkten beobachten. Immer mehr Investoren steigen aus den alten, fossilen Anlagen und Unternehmen aus und gehen in ökologische und soziale hinein.

Wie werden sich Unternehmen organisieren müssen, wenn das Ziel nicht mehr Gewinn, sondern Sinn heißt?

Daniel Dettling: Unternehmen werden sich noch stärker als heute als Teil der Gesellschaft definieren müssen. Wo es früher um die Beschäftigten, Kunden und Aktionäre ging, geht es zunehmend auch um die Interessen und Wertvorstellungen der Gesellschaft. Ohne gesellschaftliche Akzeptanz kann kein Unternehmen mehr wirtschaften. Freiheit und Verantwortung werden neu buchstabiert: Gewinne bleiben erlaubt, Unternehmen müssen sie aber stärker rechtfertigen. „Gewinn mit Sinn“ wird das neue Motto.

Stichwort Fachkräfte: Was machen dann die Unternehmen, die v.a. die sogenannten „Bullshit Jobs“ bieten? Wird es die in der sinnvollen sozialen Marktwirtschaft gar nicht mehr geben, weil wirklich keiner mehr diese Jobs machen möchte?

Daniel Dettling: Der Begriff „Bullshit Jobs“ stammt von David Graeber und meint Jobs, die nicht vermisst werden, wenn sie wegfallen. Graeber schätzt deren Anteil auf fast die Hälfte aller Jobs. Das ist sicher zu hoch, aber ich teile die These, dass im Zuge der Digitalisierung jene Tätigkeiten und Berufe aufgewertet und besser bezahlt werden müssen, die Maschinen nicht übernehmen können. Das sind vor allem die Jobs aus dem Care-Sektor: Erzieher, Pflegekräfte, Gesundheitsberufe, Lehrkräfte. Ein Großteil dieser Berufe wird von Frauen ausgeübt. Nach Corona wird auf die gestiegene Anerkennung eine Aufwertung dieser Berufe folgen müssen, sozial und finanziell. Schon heute verlieren Bullshit- Unternehmen ihre Mitarbeiter, der Trend wird sich beschleunigen. Menschen wollen einen Unterschied mit ihrer Arbeit machen. Sie wollen vermisst werden, wenn sie nicht arbeiten. Bullshit-Jobs machen am Ende krank.

Die Arbeitswelt soll also menschlicher werden, und das, obwohl viele Dinge künftig von Künstlicher Intelligenz (KI) und Robotern erledigt werden können. Das wirkt auf den ersten Blick widersprüchlich. Wie löst sich dieser Widerspruch auf?

Daniel Dettling: Wandel ist in der Regel widersprüchlich. Denken Sie nur an die Erfindung des Buchdrucks, der Waschmaschine oder des Automobils. Die Feinde des Fortschritts haben immer gleich argumentiert: Es werde zu Massenarbeitslosigkeit kommen, weil der Mensch durch die Maschine ersetzt werde. Heute ist der Analphabetismus weltweit gesunken, Frauen sind erwerbstätig und haben mehr Zeit für ihre Kinder, und die Automobilindustrie hat Millionen von neuen Jobs geschaffen und erfindet sich gerade neu. Je mehr KI und Robotik Einzug in die Arbeitswelt erhält, umso wichtiger wird der Faktor Mensch: als Erfinder von neuen Services, als Garant von Sicherheit oder als Moderator von Entscheidungen. Unsere Arbeitswelt wird durch den digitalen Wandel humaner. Wir werden mehr Zeit für unsere Kunden, Mitmenschen und nicht zuletzt für uns selbst haben.

Der alte Konflikt zwischen Kapital und Arbeit werde künftig abgelöst durch die neue soziale Frage, wem die Maschinen und Roboter gehören, ist in Ihrem Buch zu lesen. Was ist das Neue an dieser sozialen Frage der Zukunft? Sind Maschinen und Roboter nicht auch einfach Kapital?

Daniel Dettling: Im alten Konflikt ging es um die Verhinderung der Ausbeutung des Menschen. Das war die große Zeit der früheren Arbeiterbewegung. Im digitalen Kapitalismus geht es um einen neuen Konflikt: Ausdeutung und Irrelevanz. Viele Unternehmen halten Menschen in Zukunft für überflüssig, weil ihre Jobs von Maschinen besser und günstiger erledigt werden können. Dabei ist jede Ersetzung das Ergebnis von Entscheidungen, bei der auch Wertefragen berücksichtigt werden müssen. Drohnen mögen besser im Krieg sein, weil sie unnötiges menschliches Leiden vermeiden helfen. Aber sollen sie selbst entscheiden dürfen, wen sie töten? Oder soll das selbstfahrende Auto bei einem Umfall entscheiden, wer verletzt wird oder stirbt? Auch die Ausdeutung, die Reduzierung des Menschen auf seine Daten, verstößt gegen das Prinzip der Menschenwürde. Die neue soziale Frage ist eine digitale und ethische gleichermaßen: Wo sind die Grenzen von KI, und wem gehören die Daten? Big Data und Algorithmen sind keine rein privaten Güter und können daher auch nicht einfach Kapital sein. Ihr Schutz und ihr Umgang sind öffentliche Aufgaben und Fragen, ihre ökonomischen Konsequenzen und Gewinne müssen daher auch öffentlich verhandelt und verteilt werden.

Wenn die Zukunft also einer Art Allianz von Mensch und Maschine gehört, was passiert dann mit dem Marketing – ist das auch eine Aufgabe für Maschinen?

Daniel Dettling: Das ist eine spannende Frage. Technik und Maschinen erhöhen grundsätzlich Schnelligkeit und Effizienz. Systeme wie KI erkennen Kontexte und machen Vorschläge. Jeder von uns kennt den Hinweis „Kunden, die das Buch gekauft haben, haben auch dieses gekauft“. Möglich ist, dass Maschine und Mensch so gekoppelt werden, dass KI dem Menschen das Generieren von Sinnbezügen leichter macht. Am Ende geht es bei erfolgreichem Marketing um die Frage: Entsteht zwischen Produkt, Unternehmen und Kunden eine Beziehung? Als Gegenbegriff zu Big Data hat sich Thick Data gebildet. Beobachtet werden dabei kleinere Gruppen, deren Verhalten dann qualitativ gedeutet wird – wie ein Text, den man liest, statt der Analyse langer Zahlenkolonnen. Dadurch können Geschichten, Emotionen und Werte herausgefiltert werden. Geschichten, Emotionen und Werte sind aber genuin menschliche Aspekte.

Die Alten von heute nehmen sich neue Freiheiten und genießen das Leben, heißt es in Ihrem Buch. In diesem Kontext verliere das Alter auch als Unterscheidungskriterium zunehmend an Relevanz. Wie könnte man denn in Zukunft Marketing machen für eine Zielgruppe, die über 60 Jahre alt ist – oder ist das Alter dann gar nicht mehr so wichtig in der Zielgruppenunterscheidung?

Cover Daniel Dettling - „Aus Marken werden emotionale Persönlichkeiten“Daniel Dettling: Das Alter wird zunehmend irrelevant. Die Free Ager haben den Kampf gegen das Alter überwunden, sie wollen nicht mehr um jeden Preis jung bleiben. Alter ist für sie keine relevante Größe. Ein Indikator sind die Stichwörter, welche die Free Ager bei der Suche im Netz eingeben. „Senioren lustig“ stieg beispielsweise in Deutschland im letzten Jahr um fast 600%, „glückliche Senioren“ sogar um fast 5.000%. Das belegt einen interessanten Trend: Emotionale Stabilität gewinnt zunehmend an Bedeutung, konkret geht es um das Gleichgewicht von Spaß, Freundschaften und familiären Netzwerken. Intelligentes Marketing setzt deshalb statt auf „Anti-Aging“ und Jugendwahn auf „Pro-Aging“. Gemeint ist eine neue Haltung zum Alter und eine stärkere Differenzierung in Lebensstile und Lebensstilgruppen.

Sie prognostizieren, dass sich Technologien und Produktzyklen immer weiter verkürzen. Wie macht man Marketing, wenn es quasi kein fertiges Produkt mehr gibt, weil sich alles weiterentwickelt? Und war das nicht irgendwie schon immer so?

Daniel Dettling: Ja, das war schon immer so. Produkte sind eigentlich nie fertig, sondern immer Beta. Marketing wird damit noch mehr zum Management von Beziehungen und Verbindungen zwischen Marke und Mensch. Aus Marken werden emotionale Persönlichkeiten, die sich mit dem Kunden weiterentwickeln und damit eine neue Qualität erreichen. Zum Ziel wird Co-Creation of Meaning, zur neuen Markenpflicht damit gelebte und geteilte Verantwortung.

Wenn alles digitaler wird, welche Bedeutung kann unter diesen Umständen dem Haptischen zukommen?

Daniel Dettling: Je digitaler wir leben und arbeiten, desto wichtiger werden analoge, echte und auch haptische Dinge zum Anfassen. Intelligente Digitalisierung kombiniert das Real-Haptische mit dem Virtuell-Kommunikativen zu einer Verbindung, in der etwas Neues entsteht. Es geht in Zukunft um neue Synthesen zwischen der haptischen und damit sinnlich-menschlichen Welt und digitalen Innovationen.

// Mit Dr. Daniel Dettling sprach Klara Walk.

Bildquelle: Edgar Rodtmann; Shutterstock.com

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