Sichtbar machen, was sichtbar werden soll: Gegenständliche Botschafter bereichern die dynamische Protestkultur der letzten Jahre. Sie sagen meist mehr als tausend Worte und schaffen eine gemeinsame Identität, die für jeden sofort erkennbar und verständlich ist.

atom - Die Bekenntnisträger

Sie lacht und lacht und lacht, und das seit mehr als 35 Jahren. Auch die Strahlkraft ihrer Botschaft ist unverändert stark: „Atomkraft? Nein Danke“. Bis heute ist die Anti-Atom-Sonne eines der bekanntesten Logos weltweit. Aufkleber, Buttons und Fahnen werden millionenfach verkauft.
Der rote Himmelskörper auf gelbem Grund hat seinen Ursprung im dänischen Aarhus. Dort entwarf Anne Lund, Studentin der Wirtschaftswissenschaften und Aktivistin in der Anti-Atomkraft-Organisation OOA (Organisation für Aufklärung über Atomkraft), im Frühjahr 1975 das Logo und stellte der hitzigen Debatte ein höfliches „Nein Danke“ bzw. „Nej Tak“ entgegen. Statt der üblichen Angstsymbole setzte sie auf einen sonnigen Sympathieträger, der als Platzhalter für regenerative Energien gleich noch einen konstruktiven Vorschlag mitliefert.
Für Jochen Stay, Sprecher der Anti-Atom-Initiative .ausgestrahlt, liegt der Erfolg, der Lunds Kreation bis heute zuteil wurde, in genau diesem Umstand begründet: „Die Sonne ist ein positives Symbol – im Gegensatz zu beispielsweise Totenköpfen –, und die Aussage des Logos ist freundlich, aber bestimmt.“
Die Rechte an ihrem Logo trat Lund bereits direkt nach der Entwicklung an die OOA ab. Organisationen und Verbände können es nutzen, wenn sie sich mit 25 Euro jährlich am Schutz des Logos beteiligen.

Comeback einer Ikone

Als die Sonne auf der Kundgebung zum 1. Mai 1975 in Aarhus erstmals das Licht der Öffentlichkeit erblickte, wurden auf Anhieb 200 Buttons verkauft. Bis 1977 waren es rund eine Million in über 16 Ländern.
In den 1970er und 1980er Jahren avancierte das Symbol zur Ikone, und während andere populäre Symbole wie das Peace-Zeichen und die Friedenstaube nach dem Ende des Kalten Krieges langsam verblassten, erlebte die rote Sonne 1986 mit Tschernobyl einen ihrer Höhepunkte – wenn auch Lund und ihre Mitstreiter wohl gerne auf diesen Erfolg verzichtet hätten.
Mit dem rot-grünen „Einstieg in den Ausstieg“ im Jahr 2000 wurde es dann ruhiger um die Bewegung. Erst die schwarz-gelbe Koalition und der drohende „Ausstieg aus dem Ausstieg“ führten zu einem Revival. Dass die rote Sonne bald wieder tausendfach an Revers, auf Fahnen und Aufklebern zu sehen war, ist zu einem erheblichen Teil der Verdienst von Stay und .ausgestrahlt, die das Logo „reaktivierten“: „Als sich 2008 ankündigte, dass die Laufzeit der Atomkraftwerke in Deutschland möglicherweise verlängert werden sollte, war klar, dass es wieder verstärkt Proteste geben würde.“, so Stay. „Wir haben dann überlegt, das Logo wieder stärker zu nutzen. Viele ältere Aktivistinnen und Aktivisten kannten es ja von früher. Im Sommer 2008 dann brachte der Spiegel die Atomdebatte auf dem Titel: Unter der Titelzeile ‚Das unheimliche Comeback‘ versank die Anti-Atom-Sonne im Meer, es war nur noch ‚Atomkraft?‘ zu lesen. Wir fühlten uns provoziert und dachten: Wenn die Atomenergie ein Comeback startet, dann tun wir das auch. Gleichzeitig wurde uns bewusst, wie bekannt und geläufig die Sonne ist: Sie war nur halb zu sehen, aber dennoch sofort identifizierbar.“

Öffentlichkeit schaffen

Gegenständliche Botschafter mit dem Logo sind ein wichtiger Teil der Öffentlichkeitsarbeit von .ausgestrahlt. Sie werden sowohl von der Organisation selbst verteilt bzw. verkauft – vor allem natürlich im Rahmen von Veranstaltungen – als auch an andere Organisationen zur Verwendung weitergegeben. Auf der .ausgestrahlt-Website findet sich ein beträchtliches Sortiment an Produkten – von Standards wie Buttons, Bonbons, Fahnen, T-Shirts und Aufklebern bis zu ungewöhnlicheren Artikeln wie Frisbees, Klebeband oder Milchschaum-Schablonen mit Anti-Atom-Sonne. Stay betont allerdings: „Wir suchen nicht permanent nach ausgefallenen Produktideen. Wichtig ist, dass die Produkte in der Öffentlichkeit benutzt werden.“
Eingekauft wird zentral im Werbeartikelhandel, wird ein Artikel verkauft, dient dies lediglich zur Kostendeckung: „Merchandising zur Erzielung von Gewinnen, mit denen wir etwa andere Aktionen querfinanzieren, betreiben wir nicht.“ In den vergangenen drei Jahren wurden laut Stay vier bis fünf Millionen Aufkleber und Zehntausende Fahnen vertrieben. Dass letztere derart zum „Trendartikel“ avancierten, hatte zur Folge, dass sich das Erscheinungsbild von Anti-Atom-Demos grundlegend änderte: „Fahnen sah man bis dato eigentlich nur auf Partei- oder Gewerkschaftsveranstaltungen, in der Protestkultur waren sie eher selten. Hier ist es uns gelungen, einen Artikel neu zu besetzen.“
Laut Stays Einschätzungen ist der Markt inzwischen gesättigt. „Große Mengen werden wir nicht mehr unter die Leute bringen, denn viele bringen ihre Artikel einfach zur nächsten Demo mit.“ Ihrem Ziel, eine möglichst große Öffentlichkeit zu erreichen, ist die Initiative jedoch ein ganzes Stück näher gekommen: „Die Sonne ist bekannter und im öffentlichen Raum präsenter denn je. Kürzlich erzählte mir ein Bekannter, er habe geglaubt, im Vorbeigehen einen Atomsonnen-Aufkleber auf einer Hauswand gesehen zu haben. Beim näheren Hinsehen stellte sich heraus, dass es ein rot-gelber Notfallknopf war.“
Einmal unters Volk gebracht, werden gegenständliche Botschafter zu Multiplikatoren: „Je mehr Menschen öffentlich Position beziehen, desto mehr Menschen lassen sich von dieser Position anstecken“, so Stay. „Es entsteht ein Schneeballeffekt. Und genau den wünschen wir uns.“

Sonnen nach Tokyo tragen

Einen Schneeballeffekt hat auch Tomoyuki Takada, Gründungsmitglied der japanischen Grünen, ausgelöst: Der in Kaarst lebende Dolmetscher entdeckte Anfang April 2011, kurz nach dem Unfall in Fukushima, eine Jutetasche mit Anti-Atom-Sonne und hatte die Idee, eben solche Taschen nach Japan zu bringen. Ein Kieler Bioladen-Betreiber nähte 100 Stück, die auf der einen Seite japanisch, auf den anderen deutsch beschriftet waren – letzteres sollte ihnen laut Takada in Japan, wo deutsche Produkte hochgeschätzt werden, Autorität verleihen. Takada verschenkte die Taschen überall in Tokyo, wie er gegenüber der Zeit verriet, an begeisterte Abnehmer. Die Anti-Atom-Sonne lieferte ein sozusagen schlüsselfertiges Key Visual für die japanische Protestkultur und trug dazu bei, dass diese nach der Katastrophe von Fukushima wieder aufflammte, nachdem sie jahrelang von der Bildfläche verschwunden war. Zu Weihnachten 2011 verschickte Takada 99 Taschen an 99 Schulklassen in der Fukushima-Region. Weitere Chargen folgten, die teils gestreut, teils an Schlüsselpersonen im öffentlichen Leben verteilt wurden. Mit Erfolg: Wie Takada Ende Juli 2012 in einem Interview mit dem Deutschlandradio berichtete, sieht man heute auf jeder der inzwischen zahlreichen Demonstrationen in Japan Jutetaschen mit der Aufschrift „Atomkraft? Nein Danke“.

„Laufende Litfaßsäulen“

„Am wichtigsten ist es natürlich, dass sich überhaupt Menschen versammeln. Aber direkt an zweiter Stelle stehen Maßnahmen, die Intention und Argumente der Demonstrierenden unmittelbar deutlich machen – und das sind in den überwiegenden Fällen gegenständliche Botschafter“, weiß Berthold Frieß, Geschäftsführer des Landesverbands Baden-Württemberg beim BUND. Letzterer hat als Teil des Aktionsbündnisses Kopfbahnhof 21 den Widerstand gegen Stuttgart 21 organisiert und dazu beigetragen, dass die Schwabenmetropole in den vergangenen Jahren ein Hauptschauplatz der Protestkultur in Deutschland wurde. Die von einer Stuttgarter Agentur entwickelten Logos der Stuttgart 21-Gegner – zum einen das K21-Logo, zum anderen das Ortschild mit dem durchgestrichenen „Stuttgart 21“ – erlangten bundesweit Bekanntheit, nicht zuletzt, weil sie massiv als Aufkleber, Fahnen, Buttons, T-Shirts oder andere Werbeartikel verbreitet wurden. „Wir haben in der heißen Phase 2012/11 unvorstellbare Mengen unters Volk gebracht und buchstäblich säckeweise Buttons produziert und verteilt“, berichtet Frieß.
Beschaffung und Vertrieb der verschiedenen Artikel – auf Demos, an Infoständen und übers Internet – waren und sind ein wichtiger Teil der Arbeit des Aktionsbündnisses. „Die Stuttgarter Protestbewegung mit ihren verschiedenen Ausprägungen und Schwerpunkten ist ja alles andere als eine homogene Gemeinschaft“, so Frieß. „Da spielt die Identitätsstiftung eine große Rolle – man braucht Symbole zur Identifikation. Hier ist es uns gelungen, die unterschiedlichsten Menschen, Typen, Fraktionen und Meinungsbilder zu vereinen und unter einer klaren Botschaft zu subsumieren.“ Dass diese derart gut angenommen wurde, wertet Frieß als großen Erfolg: „Es ist uns wirklich gelungen, die Menschen zu laufenden Litfaßsäulen zu machen. Wir haben in der ganzen Stadt die Relevanz des Themas sichtbar gemacht. Und zwar so sehr, dass die Befürworter des Durchgangsbahnhofs irgendwann zum Gegenschlag ausholten, teilweise mit Slogans – ein Beispiel: ‚Tu ihn unten rein‘ –, die genauso unterirdisch waren wie das Projekt.“
Das führte nicht selten zu regelrechten „Button-Battles“: „Einige Arbeitgeber, darunter die Stadtverwaltung, gaben irgendwann die Direktive ‚Keine Buttons am Arbeitsplatz‘ aus, nachdem es zwischen Kollegen zu Konflikten gekommen war“, berichtet Frieß. Dessen Einschätzung zufolge konnte das Aktionsbündnis jedoch letzten Endes die „Materialschlacht“ für sich entscheiden: „Wir haben mehr Präsenz erlangt als die Gegenseite.“
Nach der Volksabstimmung am 27. November 2011, die zugunsten des Projekts Stuttgart 21 entschieden wurde, ist die Hochzeit der Bewegung vorbei. Dennoch kommen nach wie vor Woche für Woche Hunderte oder sogar Tausende von Protestierern zusammen. „Das Thema hallt nach und ist noch lange nicht vom Tisch, und auch die Logos und Artikel sind nach wie vor omnipräsent – nicht zuletzt, weil die Produkte eine Eigendynamik entwickelt haben: Wir haben z.B. das K21-Logo als Sprühschablone verteilt, das sorgte für einen kreativen Umgang mit dem Logo und eine noch größere Verbreitung. Und auf Facebook posten User Strandfotos mit Fahnen aus dem Urlaub.“

Die große Maskerade

Eine Eigendynamik hat auch ein Produkt entwickelt, das ursprünglich ein ganz gewöhnlicher Fanartikel war: die Guy Fawkes-Maske. Das leicht unheimliche Grinsegesicht entstammt dem Film „V for Vendetta“ (2006): Gegenstand der Comicverfilmung ist ein dystopisches England im Jahre 2020. Dort kämpft ein Protagonist namens V gegen ein totalitäres Regime, der seine Identität hinter einer Maske des englischen Revolutionärs Guy Fawkes verbirgt. Der Film endet mit einer Menschenmenge, die am 5. November – dem Tag des Guy-Fawkes Attentats im Jahre 1605 – gegen das Parlament marschiert, wobei alle Marschierenden eine solche Maske tragen.
Zwar war der Film ausgesprochen erfolgreich, dennoch wäre der Fanartikel wohl bald in Vergessenheit geraten, hätten nicht gut zwei Jahre später Internet-Aktivisten die Idee gehabt, das Konterfei als Erkennungszeichen einzusetzen. Breite Öffentlichkeit als Protestartikel erlangte die Maske wohl erstmals Anfang 2008, als das Internet-Kollektiv Anonymous gegen Scientology und Netzsperrungen protestierte. Weitere Aktionen folgten sehr schnell, weltweit gab die Maske einer Bewegung ein Gesicht, zu deren Programm es gehört, kein Gesicht zu zeigen. Kurze Zeit später entdeckte auch die Occupy-Bewegung den „Guy“ für sich, es folgten weitere Gruppen wie z.B. ACTA (Anti-Counterfeiting Trade Agreement). Vereinzelt war Guy Fawkes auch im „Arabischen Frühling“ präsent, ebenso wie bei den Protesten gegen Stuttgart 21.
Mittlerweile ist gar nicht mehr so klar, wer sich denn so alles hinter dem maliziösen Grinsen verbirgt – ebenso, wie manchmal ein wenig diffus ist, wie genau sich die mannigfaltigen Protestkulturen definieren. Eine „Grinsemaske ohne Botschaft“ nannte der Spiegel das Guy Fawkes-Konterfei. Dessen Schöpfer allerdings, der britische Comiczeichner David Lloyd, sagte dem britischen Sender BBC Anfang des Jahres, er sei „glücklich, dass Menschen die Maske benutzen“ würden, die ein „Aushängeschild für den Protest gegen Tyrannei“ geworden sei.

Symbole hinterfragen

Ein Protest mit einem ordentlichen Schuss Popkultur und einem noch größeren Schuss Kommerz: Lizenznehmer der Maske ist die Rubie’s Costume Company, einer der weltweit größten Kostümhersteller. Und dieser wiederum führt beim Kauf jeder Maske Tantiemen an die Time Warner Company ab – einen jener multinationalen Konzerne, die eigentlich auf der Abschussliste der „99%“ stehen. Rund 12 Euro kostet das Original im Internet, und eigener Aussage zufolge verkauft Rubie’s weltweit rund 100.000 Stück im Jahr. Über den genauen Profit, der mit den Protestierenden gemacht wird, kann zwar nur spekuliert werden. Sicher ist jedoch, dass sich im Hause Time Warner wohl kaum jemand über die kostümierte Kapitalismuskritik aufregen wird.

// Till Barth

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