Reporter ohne Grenzen (RSF) kämpft für Presse- und Informationsfreiheit. Die NGO dokumentiert Verstöße, alarmiert die Öffentlichkeit und setzt sich für mehr Sicherheit und besseren Schutz von Journalisten ein. Kristin Bässe, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit bei RSF, über subversives Marketing, digitale Schlupflöcher für zensierte Texte und tragbare, ortungssichere Funklöcher.

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Frau Bässe, seit 1994 ist die deutsche Sektion von Reporter ohne Grenzen von Berlin aus aktiv. Bevor wir auf Ihre Kampagnenarbeit eingehen – wie hat sich die Situation von Medienschaffenden seit der Corona- Pandemie verändert? Gilt auch hier, dass die Pandemie ein Brennglas für bestehende Missstände ist?

Kristin Bässe: Ja, leider trifft das auch für unseren Bereich zu. In vielen Teilen der Welt stehen Journalist:innen und Medienschaffende seit der Pandemie noch stärker unter Druck – sei es durch Informationssperren, staatliche Desinformation oder willkürliche Festnahmen. In einigen Ländern, darunter z.B. Ungarn, wurde sogar die Verbreitung sogenannter „Falschnachrichten“ unter Strafe gestellt. Die Begründung: Die Bevölkerung sei wegen der Ansteckungsgefahr während der Pandemie besonders anfällig für Falschmeldungen. Auch Ägypten verbot die Veröffentlichung aller nicht-offiziellen Infektionszahlen. Und das Assad-Regime verhängte in Syrien eine Nachrichtensperre – für alle Medien mit Ausnahme der staatlichen Nachrichtenagentur.

Aber auch abseits der Pandemie steht die Pressefreiheit unter Druck. Autoritäre Regime treten immer dreister auf. Populistische Stimmungsmache hat Hochkonjunktur. Und auch die Gewaltbereitschaft gegen Medienschaffende nimmt zu. Trügt der Eindruck, oder ist es um die Pressefreiheit weltweit immer schlechter bestellt?

Kristin Bässe: Wenn man sich unsere jährliche Rangliste der Pressefreiheit anguckt, dann gab es seit Einführung der aktuellen Methodik im Jahr 2013 noch nie so wenige Länder, in denen die Lage der Pressefreiheit als „gut“ bewertet wurde. Auch Deutschland rutschte im Ranking ab und wurde aufgrund der vielen Übergriffe auf oder am Rande von Demonstrationen gegen die Corona- Maßnahmen von „gut“ auf nur noch „zufriedenstellend“ herabgestuft. Das ist schon ein deutliches Alarmsignal und nicht nur der Pandemie geschuldet. Ein weiteres Beispiel ist Belarus, wo seit der umstrittenen Präsidentschaftswahl mehr als 400 Medienschaffende vorübergehend festgenommen wurden. In vielen Teilen der Welt haben Populisten ein Klima der Aggressivität und des Misstrauens gegenüber Journalist:innen geschaffen. Das hat man in den USA unter Donald Trump gesehen, in Brasilien unter Jair Bolsonaro und in Deutschland am Rand der Corona- Demonstrationen. Überall werden Medienschaffende angegriffen. Und wenn man nicht mehr frei arbeiten kann, ist das eine schwierige und besorgniserregende Situation. In Deutschland haben wir 2020 mindestens 65 gewalttätige Angriffe gegen Medienschaffende gezählt, das sind fünfmal mehr als noch im Jahr zuvor.

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Kristin Bässe
Jahrgang 1993, studierte Medienmanagement und Media Practice for Development and Social Change. Nach verschiedenen Medienprojekten für NGOs im Bildungsbereich ist sie seit Januar 2020 Referentin Öffentlichkeitsarbeit bei Reporter ohne Grenzen, der deutschen Sektion der 1985 in Frankreich gegründeten internationalen Organisation Reporters sans frontières (RSF). Dort verantwortet sie die Außenwirkung der Organisation online und offline – von Social Media-Kanälen bis hin zu Veranstaltungen, Aktionen und Kampagnen.

Neben Berichten, jährlichen Ranglisten und Fotobüchern macht Reporter ohne Grenzen mit Kampagnen auf Verletzungen der Presse- und Informationsfreiheit aufmerksam. Und das sehr erfolgreich: Die Kampagnen generieren große öffentliche Aufmerksamkeit und bringen die jeweiligen Themen eindrucksvoll auf den Punkt. Welche Ziele stehen bei der Kampagnenarbeit im Fokus?

Kristin Bässe: Mit Berichten und Pressemeldungen erreichen wir unsere Stammzielgruppe, diejenigen, die sich ohnehin schon für Themen rund um die Pressefreiheit interessieren. Die Kampagnenarbeit mit Projekten wie etwa The Uncensored Library spricht dagegen auch andere Zielgruppen an. Sie befördert unsere Kommunikation auf ein neues Level und sorgt für eine wesentlich größere Verbreitung unserer Themen.

Gibt es favorisierte Kanäle?

Kristin Bässe: Da unser Fokus auf bildstarken Kampagnen liegt, setzen wir oft auf Plakat- und Anzeigenkampagnen. Im Prinzip nutzen wir jedoch alles, was man nutzen kann. Das sieht man nicht zuletzt daran, dass wir jetzt auch in einem Computerspiel präsent sind. Und Social Media ist bei uns natürlich Standard.

Was muss eine RSF-Kampagne haben, um „auf die Straße gebracht zu werden“?

Kristin Bässe: Wir versuchen immer wieder, neue Ansätze zu finden und Themen auf subversive Art zu transportieren. Dabei spielen wir oft mit bekannten Bildern, die wir dann überraschend brechen. Ein gutes Beispiel dafür ist unsere Anzeigenkampagne aus dem vergangenen Jahr, in der Illustrator Steven Noble aus historischen Zeichnungen der Gutenberg-Druckpresse ein Folterinstrument gemacht hat. Das war ein starkes und eingängiges Bild, welches unabhängigen Journalismus und Informationsfreiheit fordert.

Subversiv ist auch die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Kampagne The Uncensored Library, eine Art innovative Anlaufstelle für zensierte Texte. Reporter ohne Grenzen nutzt dabei das fast überall auf der Welt zugängliche Computerspiel Minecraft als Plattform für die virtuelle Bibliothek. So sind journalistische Texte trotz staatlicher Zensur in ihren Heimatländern lesbar. Welche Hoffnungen sind mit dem Projekt verbunden, das am 12. März 2020 zum Welttag der Internetzensur gelauncht wurde?

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Digitale Bibliothek gegen Zensur: Die Uncensored Library nutzt das Computerspiel Minecraft als Schlupfloch, um zensierte Artikel von Medienschaffenden in deren Heimatländern zu verbreiten.

Kristin Bässe: Das Besondere an der virtuellen Bibliothek ist ihre Interaktivität: Wir können laufend neue Texte hochladen, und eine Chat-Funktion ermöglicht den direkten Austausch zwischen den Spieler:innen. Damit hoffen wir, dass das Projekt vor allem junge Menschen anspricht, ihnen andere Lebensrealitäten und den Wert von Pressefreiheit nahebringt. Bisher ist das weltweite Interesse an dieser unkonventionellen Plattform jedenfalls sehr groß. Selbst eine stationäre Bibliothek kooperiert inzwischen mit uns und macht die Uncensored Library für ihre Besucher zugänglich. Auch einen solchen Übertritt von der digitalen zur analogen Welt finde ich äußerst spannend.

Bereits 2018 hat Reporter ohne Grenzen die Uncensored Playlist veröffentlicht. Diese nutzt Musik als Schlupfloch, um zensierte Artikel über Streaming-Dienste in Ländern zu verbreiten, in denen das freie Wort unterdrückt wird. Medienschaffende aus China, Ägypten, Thailand, Usbekistan und Vietnam haben mithilfe lokaler und internationaler Künstler ihre Texte zu Pop-Songs gemacht. Geht es immer mehr darum, nicht nur gute Botschaften, sondern auch ihre clevere Einbettung mitzudenken?

Kristin Bässe: Bei jeder neuen Kampagne müssen wir uns überlegen, wie wir uns mit unserer Botschaft in der Nachrichtenflut durchsetzen können. Und da macht es natürlich einen Unterschied, ob man ein eigenes Album produziert und auf Spotify hochlädt oder im Social Media Feed untergeht. In solche Richtungen werden wir auch weiterhin denken, nicht zuletzt, weil auch die Technik immer neue Möglichkeiten bietet.

Die Uncensored Playlist war zunächst ein rein digitales Projekt, das inzwischen auch in gepresster Form – in limitierter Auflage als Doppel-LP auf Vinyl – erhältlich ist. Was hat für den Bogenschlag in die Offline-Welt gesprochen?

Kristin Bässe: Über Produkte identifiziert man sich ganz anders mit Themen oder Organisationen. Musik auch haptisch verfügbar zu machen war für uns der nächste logische Schritt, vor allem, wenn man den Schallplattenboom der vergangenen Jahre betrachtet. Im Prinzip sind wir dem Workflow einer Musikproduktion gefolgt – inklusive Release-Party und Konzert mit den beteiligten Künstler:innen. Zudem freut es uns natürlich, wenn wir mit unserer Schallplatte im Regal neben einem Beatles-Album stehen. Auch das ist auf eine Art subversiv. Wir bringen unsere Themen zu den Menschen nach Hause und können über das haptische Produkt sogar noch einen Multiplikatoreneffekt erzielen.

Auch andere haptische Botschafter spielen bei Reporter ohne Grenzen eine Rolle. Manchmal sind es Sonderanfertigungen, ein anderes Mal Klassiker – und immer schlagen sie intelligent den Bogen zur Botschaft. Was sind die Bestseller in Ihrem Shop?

Kristin Bässe: Sehr gut verkauft sich z.B. unsere „No Signal“-Handytasche, ein quasi tragbares, ortungssicheres Funkloch, das alle Signale blockiert. Ein solcher Artikel ist nicht nur für unsere Zielgruppe interessant, wir transportieren damit auch die Botschaft, dass wir uns gegen die Überwachung von Journalist:innen einsetzen. Auch unser Quartett der Pressefreiheit, das wir erst im vergangenen Jahr entwickelt haben, wird sehr gut angenommen. Es ist ein niedrigschwelliges, spielerisches Angebot, mit dem wir vor allem die junge Zielgruppe ansprechen.

Gibt es Referenzen zwischen haptischen Werbeträgern und Kampagnen?

Kristin Bässe: Die Produkte stehen oft in einem größeren Zusammenhang. Im vergangenen Jahr haben wir z.B. Regenschirme in unseren Shop aufgenommen, weil sie ein ganz wichtiges Symbol bei den Protesten in Hongkong waren. Ein Foto der Proteste war wiederum das Titelbild unseres Bildbandes Fotos für die Pressefreiheit 2020. Auch unsere Mund-Nasenschutz-Masken finden sich auf verschiedenen Ebenen wieder: Sie sind nicht nur im Shop zu kaufen, sondern waren auch Bestandteil einer Plakatkampagne, mit der wir im Mai 2020 auf die Einschränkungen der Pressefreiheit im Zuge der Corona-Krise aufmerksam gemacht haben. Ebenso war der Twitter-Vogel mit zugebundenem Schnabel einerseits ein Kampagnensymbol und ist andererseits ein beliebtes Motiv auf unseren Stofftaschen.

In den vergangenen Jahren gab es zahlreiche RSF-Kampagnen, bei denen der gegenständliche Botschafter von Beginn an mitgedacht wurde. Sehr aufmerksamkeitsstark war etwa „Whistles for Whistleblowers“, eine Kampagne, bei der Reporter ohne Grenzen u.a. mit Trillerpfeifen auf die Verfolgung von Menschen wie Edward Snowden oder Chelsea Manning aufmerksam gemacht haben. Was sind aktuelle Beispiele?

Kristin Bässe: Im vergangenen Jahr haben wir eine bildstarke Aktion zum US-Wahlkampf organisiert: Um auf die dramatisch verschlechterten Arbeitsbedingungen für Journalist:innen in den USA aufmerksam zu machen, wurden die Kandidierenden unter #PressFreedomPact dazu aufgefordert, sich öffentlich zur Pressefreiheit zu bekennen, wie sie der erste Verfassungszusatz garantiert. Dazu haben wir vor dem Brandenburger Tor eine große Wahlkampfbühne aufgebaut und dem Vertreter der US-Botschaft unsere Forderungen überreicht. Dabei waren auch klassische Wahlkampfartikel wie Aufkleber, Fähnchen und Ballons im Einsatz. Und dank Social Media erreichte das lokale Event auch Menschen außerhalb Berlins. Das Kampagnenmotiv für Anzeigen etc. war ein Stift, der die Unterschrift des „Press Freedom Pact“ symbolisierte.

Ein Stift stand auch bei The Weapen im Fokus. Im Jahr 2015 entwickelte Reporter ohne Grenzen aus abgefeuerten Patronenhülsen einen handgefertigten Kugelschreiber. Eine limitierte Auflage von 144 Stiften, die an 144 im Jahr 2015 ermordete Medienschaffende erinnern sollte …

Kristin Bässe: Hier stand tatsächlich das Produkt im Mittelpunkt der Kampagne – als ein weltweites Zeichen gegen die gewaltsame Unterdrückung der Informationsfreiheit. Neben einer großangelegten Printkampagne mit Medienvertretern wie Giovanni di Lorenzo oder Georg Mascolo gab es auch den Weapen zu kaufen. Die erste Auflage war bereits innerhalb weniger Stunden ausverkauft, sodass wir uns entschieden haben, noch eine weitere Edition aufzulegen.

Wie würden Sie die Bedeutung haptischer Werbeträger in Ihrem Marketingmix beschreiben?

Kristin Bässe: The Weapen kam extrem gut an. Nichtsdestotrotz kann man mit solchen Artikeln natürlich immer nur eine begrenzte Anzahl an Menschen erreichen. Im Vergleich: In der Uncensored Library haben sich inzwischen mehr als 20 Mio. Minecraft-Fans aus 165 Ländern über die Pressefreiheit informiert. Das eine schließt das andere jedoch nicht aus. Wo es möglich ist, verbinden wir die analoge mit der digitalen Welt. Denn gerade Produkte schaffen Identität. Sie spielen mehr Sinne an und wirken im besten Fall langfristig. Außerdem ermöglichen sie es uns, als Organisation noch sichtbarer zu werden und uns von der Masse der NGOs abzuheben. Als spendenfinanzierter Verein ist das ein wichtiger Aspekt bei unserer Arbeit.

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Produkte für die Pressefreiheit: Mit Artikeln wie dem Quartett oder der Uncensored Playlist als Doppel-LP sorgt Reporter ohne Grenzen auch jenseits von Aktionen für Sichtbarkeit.

Die deutsche Sektion von RSF gibt es inzwischen seit fast drei Jahrzehnten – und sie ist heute vielleicht wichtiger denn je. Hat sich die Kampagnenarbeit in den vergangenen Jahren verändert? Welche neuen Aktionsfelder haben Sie schon im Blick?

Kristin Bässe: Wir beobachten natürlich alles Neue, müssen uns aber auch genau überlegen, ob und wie wir den technischen Fortschritt in unserer Kampagnenarbeit nutzen wollen. Neue Technologien müssen sich mit unserer inhaltlichen Arbeit vereinbaren lassen. Das lässt sich ganz gut am Beispiel der Deepfake-Technologie verdeutlichen. Mit künstlicher Intelligenz lassen sich Videos so manipulieren, dass man Menschen beliebige Worte in den Mund legen kann. Das wäre mit Sicherheit sehr wirkungsvoll. Aber wollen wir diese Grenze tatsächlich überschreiten, oder verspielen wir damit unsere Glaubwürdigkeit? Und genau an diesem Punkt kann dann wiederum die Haptik eine ihrer großen Stärken ausspielen. Gerade weil Technik mit so vielen Unsicherheitsfaktoren verbunden ist, gewinnt das Handfeste an Wert. Man kann sich daran festhalten. Die Produkte gehen vielleicht nicht um die Welt, aber sie erreichen Menschen auf einer tieferen Ebene, weil sie glaubwürdig sind.

// Mit Kristin Bässe sprach Andrea Bothe.

Bildquelle: Reporter ohne Grenzen

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