Das Superwahljahr 2021 unterschied sich wesentlich von vorangegangenen Wahljahren, denn die Corona-Krise schränkte jeden Aspekt des öffentlichen Lebens ein – so auch den Straßenwahlkampf zu den diesjährigen Landtagswahlen und der Bundestagswahl. Gerettet wurde der kontaktarme Stimmenfang der Parteien vor allem durch zwei völlig gegensätzliche Tools: Online-Formate und haptische Botschafter.

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„Früher war mehr Wahlkampf“, mag mancher in diesem Jahr beim Gang durch die Innenstadt gedacht haben. Und der Eindruck trog nicht, denn Veranstaltungsverbote und Kontaktbeschränkungen hatten viele Wahlkampftermine und Präsenzevents platzen lassen, und auch jede Menge Plakate allein machen noch keinen Wahlkampf. Parteien und Kandidaten mussten sich also alternative Kommunikationskanäle erschließen, um die Wähler zu erreichen. Während Angela Merkel noch im Jahr 2013 auf einer Pressekonferenz verkündete, das Internet sei für uns alle Neuland, fanden nur acht Jahre später Parteitage, Interviews, Minister- und anschließende Pressekonferenzen online statt. Die Feuerprobe für den Internetwahlkampf unter Corona-Bedingungen mussten die Parteien zu den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz bestehen. Spätestens mit Beginn der Corona-Krise galt es für die politischen Akteure, endgültig ihr angestaubtes, analoges Image abzulegen und sich dem Fortschritt zu öffnen, um den Anschluss an die moderne Welt nicht zu verpassen. „Mit der Pandemie ist durchaus eine kleine digitale Revolution in Gang gesetzt worden, die es zwar vorher bereits in Ansätzen gab, aber jetzt im Bereich der politischen Kommunikation noch systematischer, intensiver und mit größerer Reichweite stattfindet“, schildert Politikwissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Schroeder von der Universität Kassel. „Und da sich die Gesellschaft ja auch längst in all diesen Kanälen bewegt, kommen da durchaus Dialoge zustande.“

Was in diesen Corona-Wahlkämpfen an persönlichen Begegnungen fehlte, glichen die Parteien durch eine Vielzahl digitaler Formate aus. Dabei setzten sie oft auf eine Mischung aus Entertainment und Politik. Doch ein Browser-Tab ist schnell geschlossen. „Die Aufmerksamkeitsspanne ist im Internet deutlich kürzer. Man muss sich die Aufmerksamkeit der Zuschauer hart erkämpfen. Besonders wichtig in der Online-Kommunikation ist es daher, Nähe und Emotionen zu erzeugen“, erläutert Christian Renatus. Der Berater für Marketing, Kampagnen und Wahlkämpfe hat u.a. Wahlkämpfe für die FDP Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz organisiert.

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Frontalunterricht statt Diskurs

Als Kernproblem des Online-Stimmenfangs erweist sich das Targeting. Wer im Vorfeld nicht gut genug untersucht und aussteuert, welche Zielgruppen er mit seinen Postings erreicht, läuft Gefahr, seine Maßnahmen entweder an gesinnungsferne Wähler zu verschwenden oder immer wieder dieselben Leute zu erreichen. Daniela Hohmann, Landesgeschäftsführerin der SPD Rheinland-Pfalz und Wahlforscherin, erklärt: „Durch die Filterblasenproblematik kommt z.B. eine Facebook-Veranstaltung der SPD eher bei ohnehin politischen Leuten an, und es besteht das Risiko, viele Stammwähler zu erreichen. Die brauchen wir natürlich auch, aber mit ihnen allein kann man eben keine Wahl gewinnen. Lösen lässt sich das nur mit sehr präzisem und aufwendigem Online-Targeting.“ Wen man mit politischen Maßnahmen erreicht, ließe sich offline doch noch leichter steuern, so Hohmann. „Der klassische Straßenwahlkampf ist deshalb auch weiterhin unersetzlich.“

Kurz vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im Juni 2021 ermittelte das MDR-Meinungsbarometer, dass weniger als ein Viertel der rund 5.800 Befragten bis zu diesem Zeitpunkt durch digitale Formate aktiv von Parteien angesprochen worden sei. Noch niedriger war der Anteil derer, die angaben, in diesem Wahlkampf bereits ein persönliches Gespräch mit den Kandidierenden geführt zu haben. Renatus berichtet derweil sogar von einem regelrechten Retrotrend parallel zur digitalen Entwicklung: „Die Leute hatten besonders während der ersten Corona-Welle viel mehr Zeit. Durch den Wegfall der vielen Veranstaltungen und Haustürbesuche fehlte der Diskurs. Nur durch das Wahrnehmen von Wahlplakaten findet keine inhaltliche Auseinandersetzung statt. Um das zu kompensieren, lesen die Leute wieder mehr. Und wir als FDP bedienen das Bedürfnis vielfältig, z.B. mit einem 32-seitigen Magazin, das wir zur Abgeordnetenhauswahl in Berlin per Mailing verschickt haben.“

Ein reiner Online-Wahlkampf ist auch zu Corona-Zeiten nicht erstrebenswert – da sind sich sowohl die Parteien als auch die Forschung einig. „Es geht einfach nichts über Face-to-Face-Begegnungen mit den Menschen“, erklärt Robin Schmidt, verantwortlich für Strategien und Kampagnen bei der CDU Rheinland-Pfalz. „Wir können zwar unsere Inhalte im Netz viel differenzierter an verschiedene Zielgruppen ausspielen, aber bei allen Online-Formaten leidet die Debatte. Es ist immer mehr Frontalunterricht als Diskussionsrunde. Teilnehmer bzw. Zuschauer können zwar mit dem Veranstalter kommunizieren und umgekehrt, aber der Austausch der Teilnehmer untereinander fehlt. Der persönliche Kontakt ist und bleibt der Boden des politischen Diskurses.“

Analog ist Trumpf

Haptica21 image 3 - „Wer nicht authentisch ist, erreicht den Wähler nicht“Auch Politikexperte Schroeder vertritt die Meinung, dass das Internet kein adäquater Ersatz für die persönliche Kommunikation sein kann. „Die digitalen Formate sind schlichtweg viel oberflächlicher und kurzlebiger als die ernsten und durchaus informativen Gespräche, die z.B. am Wahlkampftisch, in der Fußgängerzone oder nach einer Veranstaltung zustande kommen. Dort können sich die Besucher auslassen, Kritik üben oder nachfragen. Wenn diese Ereignisse nicht stattfinden, fehlt das persönliche Element. Die emotionale Berührung des Wählers hängt von der Begegnung und der Gemeinschaft ab. Das fehlt einfach im Netz.“

Doch der analoge Stimmenfang gestaltete sich in Corona-Zeiten naturgemäß schwieriger, wie z.B. Lars Kleba, Wahlkampfmanager der Linken in Sachsen, berichtet: „Wir waren den ganzen Sommer unterwegs, aber die Menschen sind nicht so kontaktfreudig wie vor der Pandemie. Sie sind vorsichtiger geworden. Gerade bei uns in Sachsen als Flächenland ist der Wahlkampf in diesen Zeiten ein hartes Brett.“ Zur Bundestagswahl habe sich der Landesverband der Linken deshalb auf einen kontaktarmen Wahlkampf vorbereitet, z.B. mit großen aufblasbaren Infostand-Elementen, auf denen die Forderungen der Partei bereits von Weitem zu lesen sind, und einer Auswahl haptischer Werbeträger, die kontaktfrei übergeben werden können.

Ähnliches erlebte auch Schmidt von der CDU im Landtagswahlkampf in Rheinland-Pfalz im März, denn das oberste Gebot der Stunde sei Abstand gewesen. „Es nimmt dem Wahlkampf einen Teil der Authentizität. Mit der Maske kann man nicht mal eben jemandem ein freundliches Lächeln schenken. Das hat uns sehr eingeschränkt, und wir haben versucht, diese Umstände mit gegenständlichen Werbebotschaftern auszugleichen. Zwei unserer Kandidaten sind mit einem bedruckten Pizzaschieber losmarschiert, um unter Einhaltung der Abstandsregeln ihre Werbeartikel zu verteilen. Ein anderer Kandidat hat einen Roboter gebaut und in die Fußgängerzone gestellt, um via Videoschalte live mit den Leuten auf der Straße zu sprechen. Unsere Kandidaten waren da sehr kreativ.“

Wahlkampfmodus: ON

Für die Bundestagswahl am 26. September ermöglichten die moderaten Inzidenz- und Hospitalisierungsraten sowie die neu eingeführte, sogenannte 3G-Regel (Geimpft, Getestet, Genesen) deutlich mehr Freiheiten. Das freute nicht nur die politischen Akteure, sondern auch die Wähler, wie Hohmann beobachtet hat: „Wir sind dieses Jahr ein bisschen später in den Straßenwahlkampf eingestiegen als üblich, aber dann gab es die Corona-Lage her, dass wir rausgingen und ordentlichen Wahlkampf machten. Immer, wenn ich draußen war, merkte ich, wie positiv die Leute auf uns reagierten. Nach der langen Abstinenz hatten viele großen Gesprächsbedarf und freuten sich über persönliche Live-Begegnungen.“

Das Comeback der analogen Wahlkampfveranstaltungen ist somit auch das Comeback der haptischen Werbeträger. Der durchdachte und strategisch sinnvolle Einsatz von Werbeartikeln im Wahlkampf gehört dabei zu den Paradedisziplinen der politischen Kommunikation, erklärt Schmidt: „Durch die Haptik der Produkte werden im wahrsten Sinne Berührungsängste abgebaut. Dadurch genießt gegenständliche Werbung per se ein hohes Vertrauen, weil man sofort eine unmittelbare Nähe zum Wähler herstellt.“ Damit der Auftritt ein authentisches Gesamtbild ergibt, müssen Werbespots, Online-Werbung, Wahlplakate, Info-Stände und haptische Werbemittel gut aufeinander abgestimmt sein. „Die äußere Darstellung der Parteien geht bis an den Markenkern“, weiß Schroeder. „Vom Corporate Design über die Symbolsprache bis hin zur Wahl des Werbeartikels – selbst die kleinste Mikrostrategie bildet ab, wofür die Partei steht.“ Das fange bereits bei der Auswahl der Streuartikel an, wie Elisabeth Huther, verantwortlich für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Grünen in Köln, erklärt: „Wir haben uns bewusst gegen den Einsatz diverser Streuartikel wie z.B. Luftballons, Buttons u.ä. entschieden, weil wir schlichtweg keine Wegwerfprodukte produzieren wollen, die oft nicht einmal den Weg von der Veranstaltung bis nach Hause überleben. Stattdessen setzen wir auf ausgewählte, sinnvolle Produkte mit Mehrwert und Message, wie z.B. vegane Knete mit dem Slogan ‚Mehr Knete für Kinder‘ oder vegane Gummibärchen mit der Botschaft ‚Stoppt Massentierhaltung‘.“

Auch die anderen Parteien wählen ihre Produkte mit Bedacht aus. So hat z.B. der Nachhaltigkeitsaspekt der eingesetzten Artikel in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen. Dabei setzten die Parteien in diesem Jahr z.B. auf Streuartikel wie Pappkugelschreiber, Windräder aus Papier und Holz statt Kunststoff, biologisch abbaubare Schreibgeräte, Fahrradflickzeug oder Jutebeutel. Die Grünen in Köln z.B. produzieren ihre Printprodukte ganz im Sinne ihrer Gesinnung ausschließlich auf Recyclingpapier. Hohmann konstatiert für die SPD: „Natürlich kommen bei uns gängige Giveaways wie Kugelschreiber, Einkaufswagenchips etc. zum Einsatz – und das sind übrigens auch nach wie vor die beliebtesten Streuartikel. Unsere Kandidierenden setzen aber auch kreative Materialien ein, wie z.B. selbst gekochte Marmelade – natürlich in Rot. So können sie ihrem Wahlkampf eine individuelle und persönliche Note geben und die Menschen auf emotionaler Ebene erreichen. Das ist ein Level an Engagement, das bei den Wähler:innen sehr gut ankommt und Eindruck hinterlässt.“

Authentizität zum Anfassen

Haptica21 image 4 - „Wer nicht authentisch ist, erreicht den Wähler nicht“Getragen werden die Wahlkampagnen vor allem von den Kandidaten. Sie sind Gesicht und Stimme der Partei und müssen die Wähler von sich überzeugen. „Erst das harmonische und authentische Zusammenspiel von Kandidat, Produkt und Botschaft erreicht den Rezipienten auf der emotionalen Ebene“, so Schroeder. Schmidt von der CDU unterstützt die Aussage des Politikwissenschaftlers und erinnert an die alte Weisheit, Werbung sei immer auch ein Qualitätsversprechen. So achte man bei der Partei besonders darauf, dass die eingesetzten Werbeartikel in Deutschland produziert werden. „Alles andere würde dem widersprechen, wofür wir stehen. Und wer nicht authentisch ist, erreicht den Wähler nicht“, so Schmidt.

Wie lange eine politische Kampagne nachhallen kann, erlebte Hohmann von der SPD nach der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz dieses Jahres. Plakate, Online-Formate und haptische Botschafter waren feinsäuberlich auf die Spitzenkandidatin Malu Dreyer zugeschnitten. „Gestützt wurde die Kampagne von dem Claim ‚Wir mit ihr‘“, erklärt Hohmann. „Es war ein komplett individuelles Konzept speziell für Frau Dreyer, das so gut funktioniert hat, dass ich noch lange nach der Wahl darauf angesprochen wurde.“ Von nachhaltig produzierten Kugelschreibern bis hin zu einem hochwertigen Printmagazin mit einer abwechslungsreichen Mischung aus Politik, Lifestyle und Unterhaltung hatte jedes der eingesetzten Produkte eine untrennbare Verbindung zu Malu Dreyer. „Wer wollte, konnte sich sogar eines dieser klassischen amerikanischen Yard-Signs in den Vorgarten stellen. Das war schon sehr ungewöhnlich, aber auch sehr cool.“

Ein so offenes Outing zum eigenen Wahlverhalten ist insgesamt jedoch eher untypisch in Deutschland. Umso wichtiger ist die passende Gestaltung der Werbebotschafter, weiß auch Schmidt: „Die Deutschen sind im Vergleich zu den Amerikanern sehr zurückhaltend, wenn es um die Zurschaustellung der Parteizugehörigkeit geht. Wenn auf einer Tasse nur ‚CDU‘ und ‚Bitte wähl‘ mich‘ steht, ist das den meisten Wählern zu offensiv. ‚Schwarz und schmeckt gut‘ funktioniert da deutlich besser.“ Hinzu kommt, dass der bloße Aufdruck eines Parteinamens keine Emotionen weckt. Genau die braucht ein guter Wahlkampf jedoch, denn haptische Botschafter fungieren als sprichwörtlicher Türöffner an der Haustür oder am Wahlstand. Wenn die Botschaft mit der Funktion des Produkts verknüpft wird – idealerweise sogar auf humorvolle Art – funktioniert ein Produkt besonders gut. „Ein Messer mit dem Aufdruck ‚Mit uns schneiden Sie gut ab‘ lässt den Empfänger schmunzeln, und dann lache ich, und wir kommen ins Gespräch“, so Schmidt. „Einer unserer Kandidaten, Johannes Steiniger, nutzt z.B. seinen Namen als Steilvorlage und macht ‚Johannes-Beer‘ – also Johannesbeeren-Gelee mit Bier. Der Witz funktioniert hervorragend als Eisbrecher.“ Nicht nur Humor, auch deutliche Botschaften machen ein Produkt zu einem aufmerksamkeitsstarken Werbeträger. Mit einer klaren Message setzte z.B. der Internet-Blog Volksverpetzer, der sich gegen Hass und Hetze im Netz engagiert, im Vorfeld der Wahl ein Zeichen gegen Rechts und verteilte zur Unterstützung des demokratischen Diskurses Kondome mit dem Aufdruck „Liebe stets so, dass die AfD etwas dagegen hat“.

Ob nüchtern-seriös, scherzhaft-kreativ oder besonders ausgefallen – unterm Strich sind Werbeartikel zwar nicht wahlentscheidend, doch sie haben großen Einfluss auf die Wahrnehmung einer Partei oder eines Kandidaten. „Die (In-)Kompetenz eines politischen Akteurs zeigt sich bereits im ganz Kleinen, und das Gefühl beim Empfangen eines Produkts geht mit dem Wähler nach Hause“, resümiert Schmidt.

// Laura Müller

Fotos: Andrea Bothe (5), Jens C. Friedrich (1), © WA Media; SPD (1)

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